Leseprobe: Varietäten im Wandel - Harper Lees "To Kill a Mockingbird"

Präsentation der Abschlussarbeit
Weiterführender Master Literarisches Übersetzen

Bis heute gilt Harper Lees Roman To Kill a Mockingbird als eines der einflussreichsten und meistgelesensten Werke über Rassismus weltweit. Bereits 1961, ein Jahr nach der Erstveröffentlichung, wurde das Buch mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Umso mehr überrascht die Tatsache, dass über Jahrzehnte nur eine einzige deutsche Übersetzung aus dem Jahr 1962 vorlag. Erst als 2015 ein Vorgängermanuskript des Romans – Go Set a Watchman – entdeckt wurde und erneut ein großes Medienecho auslöste, erfolgte nach einer Überarbeitung durch den Übersetzer Nikolaus Stingl eine Neuauflage der Übersetzung Claire Malignons.

Was auf den ersten Blick wie eine Coming of Age-Erzählung aus den Südstaaten der 1930er-Jahre erscheint, erweist sich bei sorgfältiger Analyse nicht nur als raffiniertes Plädoyer für die Gleichbehandlung aller vor dem Gesetz, sondern auch als literarisches Werk, dessen Klangfülle Übersetzer vor eine gewaltige Herausforderung stellt.
In unserer globalisierten Welt stehen Übersetzer immer wieder vor der Herausforderung, literarische Werke adäquat zu übertragen, die mit kulturellen Unterschieden und Varietäten spielen. Die Übersetzung von Ausprägungen einer Einzelsprache wie Dialekt, Slang oder Kreolsprache gerät dann zu einer Gratwanderung, da die schriftliche Wiedergabe von Varietäten im Deutschen eher ungewohnt ist. Welche Strategien hier sinnvoll sind, wie stark im Deutschen markiert werden kann und weshalb, wurde in der vorliegenden Masterarbeit untersucht.
Ziel der Arbeit war die Auseinandersetzung mit der möglichen Übertragung von Varietäten am Beispiel von Harper Lees Roman, der mit einem breiten Spektrum an Fachjargon, Südstaaten-Dialekt und mit der Fiktion von Mündlichkeit spielt. Denn Sprachreflexion zählt zu den Hauptthemen des Buches: Wie starr sind die räumlichen, aber auch sprachlichen Barrieren innerhalb der Südstaaten-Gesellschaft der 1930er-Jahre? Wann überschreiten Figuren Grenzen oder überwinden Hierarchien? In welcher Weise werden die Charaktere aufgrund ihrer Sprechweise definiert? Sprache und die Darstellung mündlicher Rede bergen die Gefahr der Festschreibung, können Normen aber auch auf subversive Weise unterwandern, so dass sich die Figur der Festschreibung entziehen kann.
Nach einer systematischen Darstellung von Varietäten aus sprachwissenschaftlicher Sicht (Eugenio Coseriu), die einen Einblick in deren Funktionsweise geben sollte, folgten Überlegungen zum schwierigen Umgang mit diskriminierenden Begriffen: Wann und wie dürfen Übersetzer in den Text eingreifen, um heute als abwertend erkannte Begriffe zu umgehen? Und inwiefern verfälschen sie damit die Darstellung einer Gesellschaft, wie sie in den 1930er-Jahren in der Realität existierte?
Auf Basis dieser Vorüberlegungen erfolgte sodann eine Neuübersetzung von drei Abschnitten, die im Deutschen jeweils unterschiedlich stark markiert werden sollten. Die Gratwanderung war schwierig, aber lehrreich. Große Teile der Handlung werden von der ironischen Erzählerstimme eines sechs- bzw. achtjährigen Mädchens wiedergegeben, die sich auf relativ hohem Sprachniveau bewegt. Deren Übertragung birgt keine größeren Schwierigkeiten, im Gegensatz zur zweiten Ebene, der direkten Rede. Hier sollte der Kontrast zwischen gesprochener und geschriebener Sprache herausgearbeitet und im nächsten Schritt versucht werden, die feinen Differenzierungen der direkten Rede möglichst genau wiederzugeben, um die Klangvielfalt des Ausgangstextes zu erhalten. Zunächst orientierte ich mich am Rhythmus und Klang des Englischen und suchte Inspirationen bei der einzig existierenden deutsch-basierten Kreolsprache "Unserdeutsch". Im Verlauf der Arbeit kristallisierte sich allerdings die Erkenntnis heraus, dass paradoxerweise eine freiere Übersetzung der direkten Rede erforderlich ist, um dem Ausgangstext "treu" zu bleiben – den "Klang" der Figurenrede einzufangen und sich auf den natürlichen Sprechrhythmus im Deutschen einzulassen, ist m. E. wesentliche Voraussetzung für eine gelungene Übertragung von To Kill a Mockingbird.